Kurden rechnen mit Massenflucht nach Deutschland

12. August 2016

Die Kurdische Gemeinde prophezeit Deutschland Hunderttausende Flüchtlinge aus der Türkei, wenn Erdogan seinen Kurs fortsetzt. Gülen-Anhänger: „Wer sich nicht anpasst, sitzt auf gepackten Koffern“.

Seit dem Militärputsch in der Türkei am 15. Juli geht die türkische Führung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan mit großer Härte gegen alle vor, die sie als Gegner betrachtet. Die Kurdische Gemeinde Deutschland hält deshalb eine Massenflucht für wahrscheinlich.

„Kurzfristig rechne ich mit Zehntausenden, mittelfristig mit einigen Hunderttausend Schutzsuchenden aus der Türkei in Deutschland, wenn das Erdogan-Regime die Minderheiten und die demokratische Opposition weiter bekämpft“, sagt der Verbandsvorsitzende Ali Toprak der „Welt“.

Schon vor der politischen Eskalation in der Türkei stellten deren Bürger die größte Gruppe der in Deutschland lebenden politisch Verfolgten: 11.386 der insgesamt 39.625 als asylberechtigt anerkannten Flüchtlinge stammten zum Stichtag 30. Juni aus dem asiatisch-europäischen Grenzland, wie das Bundesinnenministerium der „Welt“ mitteilte.

Asylberechtigt nach dem Grundgesetz sind nur politisch, also von staatlicher Seite, individuell Verfolgte. Also nicht vor Gewalt, Armut oder Perspektivlosigkeit Geflohene; so erhalten die meisten Syrer Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention.

Offenbar beantragen wegen der Verschärfung der Lage in ihrer Heimat bereits deutlich mehr Türken Asyl in Deutschland. Im ersten Halbjahr stellten mit 1719 fast so viele wie im gesamten Vorjahr (1767) einen Antrag. Waren es im März noch 198, stieg die Zahl monatlich an – bis auf 485 im Juni, wie das Bundesamt für Migration (BAMF) der „Welt“ mitteilte.

Allerdings suchten auch viele Türken ohne Fluchtgrund in Deutschland Schutz. Das zeigt die geringe Anerkennungsquote. Lag sie im vergangenen Jahr immerhin bei rund 15 Prozent, sank sie zwischen Januar und Juni sogar auf unter sieben Prozent, wie der „Tagesspiegel“ vom BAMF erfuhr.

Der Behörde zufolge waren im vergangenen Jahr 81 und in diesem Jahr sogar 88 Prozent der türkischen Antragssteller Kurden; ihre Anerkennungsqote lag übrigens nicht über jener der ethnischen Türken.

Verbandschef Toprak sagte, innerhalb der Türkei seien bereits 500.000 Kurden auf der Flucht, weil die Armee bereits vor Monaten kurdische Hochburgen mit Strafaktionen überzogen und dem Erdboden gleichgemacht habe.

Jetzt, nach dem vereitelten Putsch und der harten Reaktion darauf, kämen noch säkulare und oppositionelle ethnische Türken hinzu. „Viele werden in Europa neu anfangen wollen, wenn sie in der Türkei weiter unterdrückt werden. Es kann nicht sein, dass ein Staat, der selbst Flüchtlinge aufnimmt, im eigenen Land Flüchtlinge produziert“, sagt Toprak, der CDU-Mitglied und Vertreter der Migranten im ZDF-Fernsehrat ist.

Der Kurden-Vertreter beklagte die gezielte Ansiedlung syrischer Araber in kurdischen, aber auch in alevitischen Städten, womit Erdogan den Ausreisedruck auf die verbliebenen Kurden erhöhen wolle. „Sie sind die letzte große Minderheit in der Türkei, die christlichen Armenier und Griechen wurden ja schon in den vergangenen 100 Jahren ausgerottet oder vertrieben“, sagte Toprak.

Der Verbandschef wünscht sich, dass die Bundesregierung sich „so scharf wie Österreich gegen Erdogan und seine Anhänger positioniert. Auch hier in Deutschland findet eine Hexenjagd gegen Erdogan-Kritiker statt, ich fühle mich in den letzten Monaten zum ersten Mal nicht mehr sicher in Deutschland“, sagte der Verbandsvorsitzende, der im Alter von drei Jahren aus Ankara nach Deutschland gekommen war.

Mit Blick auf einen EU-Beitritt der Türkei sagte Toprak: „Wer hier noch für die Aufrechterhaltung der Beitrittsgespräche plädiert, weil er ,die Demokraten im Land nicht alleinlassen‘ wolle, spielt mit seiner eigenen Glaubwürdigkeit und vor allem mit der Würde aller Demokraten. Sowohl in der Türkei als auch in der EU.“

Der deutsche Zweig der Gülen-Bewegung rechnet ebenfalls mit einem Neuanfang vieler Türken im Ausland. Der Vorsitzende Ercan Karakoyun sagte der „Welt“: „Mehr Türken werden Asyl in Deutschland suchen, vor allem Kurden und Oppositionelle.“ Die „Brandmarkung“ als Gülen-Anhänger vernichte Lehrern und anderen Akademikern die berufliche Existenz. „Wer sich nicht anpasst und Erdogan lobt, sitzt auf gepackten Koffern, übrigens auch die Kemalisten und Säkularen.“

Wie sich die Flucht aus der Türkei seit dem Putschversuch am 15. Juli entwickelt, können deutsche Behörden erst in einigen Wochen sagen; dann werden entsprechende Zahlen vorliegen. Das Bundesinnenministerium verwies auf Anfrage der „Welt“ darauf, dass die hohe Zahl von 11.386 türkischen Staatsangehörigen mit einer im Ausländerzentralregister (AZR) gespeicherten Asylanerkennung „im Wesentlichen historischen Ursprungs und nicht der aktuellen Situation geschuldet“ sei.

So bleibe im AZR der erlangte Flüchtlingsstatus so lange gespeichert, „bis er gegebenenfalls zurückgenommen wird oder die Person zum Beispiel ausreist, stirbt oder eingebürgert wird“, so der BMI-Sprecher.

Häufig vergessen wird, dass viele der etwa 3,5 Millionen Türkischstämmigen in Deutschland nicht als Gastarbeiter und über den Familiennachzug, sondern auch als Asylbewerber kamen. So zählte die Türkei durchgängig von 1986 bis 2011 zu den Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden in Deutschland.

Laut Bundesinnenministerium stellten alleine von 1990 bis 2000 mehr als 200.000 Türken Asylanträge. Zwar wurden die meisten abgelehnt, doch viele abgelehnte türkische Bewerber blieben trotzdem da. So wurden etwa im ersten Halbjahr 2016 laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Linke-Anfrage nur 101 Türken in ihr Herkunftsland abgeschoben, zusätzlich reisten 348 abgelehnte türkische Asylbewerber freiwillig aus. Bevor die türkische Gesellschaft durch den Putschversuch und die harte Reaktion darauf erschüttert wurde – und viele neue Fluchtgründe entstanden.

Philipp Stierle

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